Leiden unter dem Hintern des Baby-Elefanten

In 44 Jahren hat es mir bei einem Leitartikel noch nie so den Hals zugeschnürt.

Mitte Mai 2020. Restaurant Il Mare im Siebenten Wiener Gemeindebezirk: der beste Italiener der Stadt. Seit Kurzem wieder geöffnet. An einem kleinen Tischchen neben dem Eingang diskutieren zwei Manager heftig miteinander. TUI-Geschäftsführer Gottfried Math und Rewe-Touristik-Geschäftsführer Martin Fast tauschen sich aus. Dass ich hinzukomme, wird nicht mit ungeteilter Freude quittiert. Was die beiden ausschnapsen, will ich lächelnd wissen. Ob es irgendeine Chance gibt für die Branche? „Das loten wir jetzt aus“, meint Math. Später verharmlost Fast dann das Treffen: Man sei seit 20 Jahren befreundet. Es habe sich um ein rein persönliches Treffen gehandelt. Ein Statement zum Wiederaufleben des Geschäftes gebe es von seinem Unternehmen keines.

Warum die beiden sich so austernmäßig verschlossen geben, verstehe ich nicht: Denn jetzt geht’s wahrhaftig ans Eingemachte: 

Wie dramatisch die Situation für Österreichs Reiseveranstalter, Tour-Operatoren und ihre Tausenden Mitarbeiter ist, lesen Sie in einem offenen Brief, den Elisabeth Kneissl-Neumayr, seit 40 Jahren erfolgreich in der Branche tätig, frei von der Leber weg schreibt. Sie lesen ihn auf Seite 32. Und wenn stimmt, was hinter vorgehaltener Hand in der Branche diskutiert wird – dann Gnade Gott unserer Branche: Dem Vernehmen nach könnte jedes zweite Reisebüro schließen. Dürften sich fast 50 Prozent der Arbeitsplätze unserer Branche verabschieden.

Szenenwechsel: Montag, 8. Juni 2020. Der sogenannte „virtuelle runde Tisch“. Aus jedem Bundesland ist ein Fragesteller zusätzlich zum Österreichischen Reisebüroverband (ÖRV) und zum Österreichischen Verein für Touristik (ÖVT) zugelassen. 

Die Themen brennen unter den Nägeln. Allen Veranstaltern, Reisebüros, Incoming-Agenturen etc. geht es um Planbarkeit (nicht gegeben). Um Hilfsfondszahlungen (der Branche wurde eindeutig mitgeteilt, dass es ein eigenes „Hilfspaket Reisebüros“ geben werde) und um Verlängerung der Kurzarbeit. Am 10.6. (nach Redaktionsschluss) folgte die Bekanntgabe des Gesundheitsministers hinsichtlich der Grenzöffnungen in Europa ab 16. Juni.

Ja, und angeblich ist der Hilfsfonds für die Reisebranche auch ein Thema für die Regierungsklausur in wenigen Tagen – doch die immens bemühte und engagierte Tourismus-Ministerin Elisabeth Köstinger kann und will dem nicht vorgreifen.

Es ist ein Trauerspiel. Und wer diese Krise mit jener des Jahres 2008 vergleicht, der begreift den Ernst der Lage nicht. 

Szenenwechsel: Ich plaudere mit meinem Dachdecker. Auf Distanz. Worüber? Natürlich über die Pandemie. „Wenn 50.000 Menschen ohne Masken auf engstem Raum demonstrieren dürfen, dann kann’s doch nicht mehr ganz so schlimm sein, oder?“, feixt er durch’s geöffnete Fenster. 

Wir alle haben die Fotos gesehen. Wir haben aber auch die Berichte gelesen, wie Flugreisen funktionieren. Wenn’s also ums Demonstrationsrecht geht, um die Auslastung der Sitze in den Flugzeugen, dann gibt’s eine Argumentation. Und wenn’s um die Öffnung der Grenzen geht, eine andere. Irgendwie entsteht da ein Bild in meinem Kopf. Vom Babyelefanten, der mit seinem fetten Hintern auf dem Hals unserer Branche sitzt. Und schon bald wird uns allen die Luft ausgehen. Nein, das können wir nicht zulassen. Und deshalb finde ich es gut, dass Manager wie Math und Fast die Köpfe zusammenstecken. Und gemeinsam etwas tun. Wir müssen alle zusammenrücken. Ganz nah. Ohne Meterabstand. Und uns gemeinsam aus dieser Situation herauswurschteln. Sonst wird es ganz finster um unsere heimische Touristik werden.

Ja, ich hatte schon Leitartikel, die mir leichter gefallen sind. Wo es mir nicht nach 44 Jahren in der Branche den Hals zugeschnürt hat. Herzlichst Ihr

Christian W. Mucha

Herausgeber

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