Savoir vivre trotz Kälte

Montréal ist anders als andere Städte Nordamerikas. Der Einfluss Frankreichs ist unverkennbar.
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Während in den USA oftmals eher Ignoranz und eine bildungsdefizitäre Gleichgültigkeit gegenüber dem alten Kontinent herrscht, wirkt Montréal beinahe wie eine neugierige und gebildete Tochter Europas. Die nur einmal ganz kurz ein Auslandssemester in Amerika machte und schließlich dort unverhoffter Dinge Wurzeln schlug. Wer sich in den Pubs und Cafés als „I am from Austria“ ausgibt, wird nicht, wie vom südlichen Nachbarn, für gewöhnlich mit einem Känguru gleichgesetzt. Sondern auf die beängstigenden xenophoben Entwicklungen am alten Kontinent angesprochen. Dabei wird man nicht selten verblüfft von der differenzierten Kenntnis über das ferne Land unter der hier lebenden Bevölkerung. Ja man fragt sich manchmal, ob man sich nicht doch in einer europäischen Enklave in Nordamerika befindet. 

Sprachgenies

Die Montréaler sind eben Sprachgenies. In der Metro lauscht man nicht selten Konversationen, die fließend und unaufgeregt vom Englischen ins Französische wechseln und oftmals auch in eine Drittsprache münden – jede Sprache hat eben ihre Vorzüge. Die hier Ansässigen wählen daraus je nach Laune wie aus einem Festbuffet. Zwar ist die Amtssprache Französisch, jedoch haben mehr als 40 Prozent der Bevölkerung eine andere Muttersprache. „Meine erste Sprache ist Italienisch, danach kommt Französisch und dann Englisch“, erzählt mir Francesco, ein italienischer Restaurantbesitzer im Stadtteil Petite Italy, in akzentfreiem Englisch. In dem kleinen lauschigen Wohnviertel haben die Italiener das Sagen. Überall an den Häusern sieht man italienische Fahnen, Märkte mit italienischen Köstlichkeiten, traditionelle Bäckereien, italienische Lebensmittelgeschäfte, Cafés, Ristorantes. Und im Parc Dante sieht man die italienischen Auswanderer Boccia spielen. 

„In Montréal gibt es keine Assimilierung, wir leben so, wie wir es auch in Italien tun würden“, erzählt Francesco. Seine Mutter macht noch immer die Spaghetti aus eigener Manufaktur und seine Kinder gehen in eine italienische Schule. Natürlich lernen die Kinder Französisch, aber unterrichtet werde auf Italienisch, erklärt Francesco. Nicht so sehr zwanghafte Verquickung von Verschiedenheit, sondern das zwanglose Nebeneinander sind die Basis für das unaufgeregte Zusammenleben in der Stadt, die trotzdem keine Berührungsängste kennt. 

Es gibt kaum eine ethnische oder religiöse Gemeinschaft, die sich nicht in einem Viertel oder Grätzel zusammenfindet. Am Übergang zwischen Centre-Ville und Altstadt befindet sich z.B. die Chinatown, deren Grenzen von vier Scheintoren (Pailou) markiert werden. Dieser Bereich war bis in die 1920er-Jahre die bevorzugte Wohngegend der Juden. Danach übernahm das Arrondissement Outremont diese Rolle. Dort gibt es heute Synagogen sowie jüdische Schulen und Geschäfte. In den Parks der Stadt zeigt sich ein ähnliches Bild: Dicht nebeneinander, aber doch getrennt, Gruppen von Indern, Schwarzen, Weißen und Asiaten, die – wie es sich gehört – dementsprechend Cricket, American Football, Fußball und Badminton spielen.  

„Hi Bonjours“…

Das Band, welches die Vielfalt zusammenhält, wird von der Quebecer Provinzregierung, die ihren Sitz im konservativen Quebec, circa 300 Kilometer nordöstlich von Montréal hat, geschnürt. Neben dem an Frankreich orientierten Rechtssystem ist es vor allem die französische Sprache, die von der Provinzregierung in Quebec City mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Jede leise Gefahr, dass das Englische überhandnimmt, wird im Keim erstickt. Erst vor Kurzem wurde ein Gesetz beschlossen, das es untersagt, im Geschäftsverkehr ausschließlich eine englische Begrüßungsformel zu verwenden. Wer „Hi“ sagt, muss dann auch bitteschön „Bonjour“ sagen. So wird man häufig in den Shops und Restaurants mit „Hi Bonjour“ begrüßt. 

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